Die Geschichte von den drei Wünschen
Isaac Bashevish Singer, ist 1904 in Polen geboren, er wuchs in Warschau auf. Mit 22 Jahren begann er zu schreiben. 1935 emigrierte er in die USA. 1978 wurde er mit dem Nobelpreis ausgezeichnet.
I.B.Singer: "Die Ereignisse von denen ich erzähle spielten sich nicht im Niemandsland ab, sondern in den Schtetln und Dörfer, die ich gut gekannt habe und in denen ich aufgewachsen bin. Meine Heilige waren jüdische Heilige, die Dämonen waren jüdische Dämonen."Frampol
Frampol, so hieß das Schtetl. Es hatte alles, was ein Schtetl haben sollte. Ein Bethaus, ein Lernhaus, ein Armenhaus, einen Rabbi, und ein paar hundert Einwohner. Jeden Dienstag war in Frampol Wochenmarkt, da kamen die Bauern von den umliegenden Dörfern und Weilern um Korn, Kartoffeln, Hühner, Kälbchen zu verkaufen und um Salz, Kerosin, Schuhe, Stiefel und alles was ein Bauer sonst noch braucht eizukaufen.
Schlomo, Esther und Moshe
In Frampol lebten drei Kinder, die oft miteinander spielten: Schlomo (die Abkürzung von Salomon)sieben Jahre alt; Esther, seine Schwester, 6 Jahre alt; und sein Freund Moshe, der etwa gleichalt mit Schlomo war. Schlomo und Moshe gingen in dieselbe Schule, den Cheder, und dort erzählte ihnen jemand, dass sich an Hoschana Rabba,
dem 7. und letzten Tag des Laubhüttenfestes spät in der Nacht der Himmel auftun würde. Wer das sehe, der habe eine Minute Zeit um sich etwas zu wünschen, und dieser Wunsch wird auf jeden Fall in Erfüllung gehen.Schlomo, Esther und Moshe sprachen oft darüber was sie sich wünschen sollten. Und nach langem Hin und Her beschlossen sie an Hoschana Rabbadie ganze Nacht wachzubleiben und, wenn der Himmel sich auftut, ihre Wünsche auszusprechen.
Hoschana RabbaKinder müssen zeitig zu Bett gehen, aber diese drei blieben wach, bis ihre Eltern eingeschlafen waren. Dann schlichen sie sich aus dem Haus und trafen sich im Hof der Synagoge, um auf das wundersame Ereignis zu warten. Es war ein recht abenteuerliches Unternehmen. Der Mond schien nicht, und die Nacht war kalt. Die Kinder hatten schon oft gehört, daß draußen Dämonen lauern, die sich auf jeden stürzten, der sich in einer stockdunklen Nacht ins Freie wagt. Und es wurdeauch von Toten gemunkelt, die nach Mitternacht in der Synagoge beten und aus der heiligen Tora vorlesen. Und wenn jemand zu später Sunde an der Synagoge vorbeiginge, könnte es passieren, daß ihn die Toten ans Vorlesepult riefen - ein schauerliches Erlebnis!
Aber Schlomo und Moshe hatten ihre Gebetsmäntel angelegt, und Esther hatte sich zwei Schürzen umgebunden, eine vorn und eine hinten. Damit sollten die bösen Mächte abgewehrt werden. Trotzdem hatten die Kinder Angst. Eine Eule schrie. Man hatte Esther erzählt, nachts flögen Fledermäuse umher, und wenn sich eine in den Haaren eines Mädchens verfinge, würde es binnen einem Jahr sterben. Esther hatte sich ein Tuch um die Haare gebunden.
Eine Stunde verging, zwei, drei - und der Himmel hatte sich immer noch nicht aufgetan. Die Kinder wurden müde und hungrig. Plötzlich blitzte es, und der Himmel tat sich auf. Die Kinder erblickten Engel, Seraphim, Cherubim, feurige Triumphwagen und die Himmelsleiter mitsamt den daran herauf und herab- steigenden Engeln. Genau wie es in der Bibel geschrieben steht. Das alles geschah so plötzlich, daß die Kinder ihre Wünsche vergaßen.
Esther sagte als erste etwas "Ich habe Hunger, wenn ich doch eine Plinse hätte"Und sofort sahen die Kinder eine Plinse vor sich. Als Schlomo merkte, daß seine Schwester ihren Wunsch an etwas so unwichtigem wie einer Plinse verschwendet hatte, wurde er zornig und rief:
"Du dummes Mädchen, ich wollte du wärst selber eine Plinse!"Im Nu verwandelte sich Esther in eine Plinse. Nur ihr Gesicht lugte blaß und angstvoll aus dem Teig hervor. Solange Moshe zurückdenken konnte kannte er Esther und hatte sie lieb gehabt. Als er sah, daß seine liebe Esther in eine Plinse verwandelt worden war, geriet er in schreckliche Verzweiflung. Jetzt war keine Zeit zu verlieren. Die Minute war schon fast vorbei.
Moshe rief: "Ich möchte das Esther wieder so ist, wie sie war".Und so geschah es und im nächsten Moment schloß sich der Himmel wieder.
Als den Kindern klar wurde wie töricht sie ihre Wünsche vertan hatten, begannen sie zu weinen. Es war stockdunkel geworden, und sie konnten den Heimweg nicht finden. Sie schienen sich in einem fremden Ort verlaufen zu haben. In Frampol gab es keine Berge, doch die Kinder stiegen einen Berg hinauf. Sie wollten umkehren, aber ihre Füße gingen wie von selbst bergaufwärts.
Dann tauchte ein Mann auf, er hatte einen langen weißen Bart, hatte einen Stock in der einen Hand und eine Laterne, in der eine Kerze brannte in der anderen. Und sein Gewand war mit einer weißen Schärpe gegürtet. Es war sehr windig und die Kerze flackerte.Der Alte fragte: "Wohin geht ihr und warum weint ihr?"Und Schlomo sagte ihm die ganze Wahrheit, wie sie die ganze Nacht aufgeblieben und gewartet haben und wie sie ihre Wünsche vergeudet haben.
Der Alte schüttelte den Kopf, "ein guter Wunsch ist nie vergeudet, erzählt mir eure Wünsche."
und Schlomo begann zu erzählen; "ich wünsche mir so klug und gerecht zu sein wie der weise König Salomon , mein Namensgeber"
Dann erzählte Esther, "ich wünsche so schön zu sein wie die Königin Esther".
"Ich möchte gerne so gelehrt in Glaubensdingen sein, wie der berühmte Rabbi Mosche Maimonides gewesen war."
"Vielleicht haben uns die Dämonen verwirrt, dass wir im wichtigen Augenblick unsere Wünsche vergessen haben", sagte Mosche
"In der heiligen Nacht von Hoschana Rabba haben die Dämonen keine Macht"; sagte der Alte.
"Warum hat uns dann der Himmel einen so üblen Streich gespielt", klagte Esther.
"Der Himmel spielt keine Streiche, erwiderte der Alte, ihr habt versucht dem Himmel einen Streich zu spielen. niemand wird ohne Erfahrung klug, niemand kann ohne zu lernen ein Gelehrter werden. Du, kleines Mädchen bist bereits sehr hübsch, aber zur Schönheit des Körpers muß auch die Schönheit der Seele kommen. Kein Kind kann die Liebe und Treue einer Königin besitzen, die bereit war, ihr Leben für ihr Volk hinzugeben. Weil ihr drei euch zuviel gewünscht habt, habt ihr gar nichts bekommen."
"Was sollen wir jetzt tun", fragten die Kinder.
"Geht nach hause und versucht euch durch Anstengung das zu verdienen, was ihr allzu schnell bekommen wolltet."
"Wer seid ihr", fragten die Kinder noch.
antwortete der Alte, "dort oben nennt man mich Wächter der Nacht".Sobald er das ausgesprochen hat, waren die Kinder wieder auf dem Hof der Synagoge. Die Kinder waren so erschöpft, dass sie, wie sie zuhause waren und ihren Kopf auf das Kissen legten, sofort einschliefen. Was sie erlebt haben erzählten sie niemandem, es blieb ihr Geheimnis.
Jahre vergingen
Schlomo war immer wißbegieriger geworden. Er erwies sich als so begabt und las so viele Bücher über Geschichte, Handel und Finanzwesen, daß er Berater des Königs von Polen wurde. Man nannte ihn den "ungekrönten König" und den "König Salomo von Polen".
Mosche hatte sich stehts und vorallem für Glaubensfragen interessiert. Die Bibel und den Talmud konnte er fast auswendig. Er verfaßte viele religiöse Bücher und wurde als der "Maimonides unserer Zeit bekannt".
Und Esther wurde eine junge Frau, die nicht nur schön, sondern auch gebildet und sehr tugendhaft war. Viele junge Männer aus reichen Familien schickten Heiratsvermittler zu Esthers Eltern, um sie um die Hand ihrer Tochter zu bitten, doch Esther liebte nur Moshe, genau wie Mosche nur Esther liebte. Als der alte Rabbi von Frampol starb, wude Mosche zu seinem Nachfolge ernannt. Ein Rabbi muß eine Frau haben, und Rabbi Mosche heiratete Esther.
Ganz Frampol nahm an Hochzeitsfest teil. Schlomo, der Bruder der Braut kam in einer sechsspännigen Kutsche zur Hochzeit seiner Schwester. Vor und hinter der Kutsche ritten Stallknechte. Die Musik spielte und es wurde getanzt, und das junge Paar bekam viele Geschenke. Spät in der Nacht wurde der Bräutigam und dann jeder Gast zum Tanz mit der Braut aufgerufen, wobei sie nach alter Sitte ein Taschentuch an einem Ende hielt und der Tanzpartner das Taschentuch am anderen Ende hielt. Als jemand fragte:
"Haben alle mit der Braut getanzt?"
sagte der Spaßmacher: "ja alle ausser dem Nachtwächter".Bei diesen Worten tauchte aus dem Nirgendwo ein alter Mann auf, der in der einen Hand einen Stock und in der anderen eine Laterne hatte und der mit einer weißen Schärpe gegürtet war. Die Braut, ihr Bruder und ihr Bräutigam erkannten den Alten wieder, sagten aber kein Wort. Er ging auf die Braut zu, stellte die Laterne aufeine Bank, legte den Stock daneben und begann dann, mit der Braut zu tanzen, währenddie anderen verwundert zusahen. Niemand hatte diesen alten Mann je zuvor gesehen. Die Musikanten hörten zu spielen auf. Es wurde so still, daß man das Zischen der Kerzen und von draußen das Zirpen der Heuschrecken hören konnte. Dann nahm der Alte seine Laterne, überreichte sie Rabbi Mosche und sagte:
"Dieses Licht soll dir den Weg in die Tora weisen".Dann nahm er seinen Stock überreichte ihn Schloma mit den Worten:
"Dieser Stock soll dich vor deinen Feinden schützen."Zu Esther die seine weiße Schärpe erhielt, sagte er:
"Diese Schärpe soll dich immer an dein Volk und seine Bedrängnis binden"Nach diesen Worten verschwand der Alte. In den folgenden Jahren geschah es of, daß die Juden zu Esther kamen und sie baten, sich bei den Herrschern des Landes für sie einzusetzten. Sie band sich dann jedesmal die weiße Schärpe um und versäumte es nie, ihrem Volk zu helfen. Jedermann nannte sie Königin Esther.
Immer wenn es Rabbi Moshe schwerfiel, igendeine Einzelheit des Gesetzes zu verstehen, öffnete er den Schrein, in dem die Laterne mit dem ewigen Licht stand, und sogleich wurde ihm alles klar.
Und wenn Schlomo in Schwierigkeiten geriet, nahm er den Stock in die Hand, und sogleich waren seine Gegner machtlos.
Alle drei erreichten ein hohes Alter. Erst kurz vor seinem Tod enthüllte Rabbi Mosche den Leuten von Frampol, was damals in der Nacht von Hoschana Rabba geschehen war. Er sagte:
"Für alle, die willens sind, sich anzustrengen, hält die Zukunft große Wunder und herrliche Schätze bereit." Für sie sind die Tore des Himmel immer offen".