Der gefangene Tiger
Eine indische Fabel
Ich bedanke mich für die gezeichneten Bilder bei den Kindern der Ethikklasse und ihrer Lehrerin, Frau Fiala an der Christian Morgenstern GrundschuleDie Bewohner eines Dorfes hatten in einer Falle einen mächtigen Tiger gefangen und in einen Käfig gesperrt. Böse saß er hinter den Gittern und brütete darüber nach, wie er denn entrinnen könnte. Eben ging ein wandernder Brahmane vorbei, und diesen flehte er an:
"Bruder, Bruder, hab Erbarmen mit mir! Ich sterbe vor Durst! Wenn du mir die Käfigtüre für einen Augenblick öffnest kann ich schnell zum Fluss hinunterlaufen und Wasser trinken. Ich will auch gleich wieder zurück sein. Du rettest mein Leben wenn du mir die Türe öffnest"!
"Der wäre unklug, der dir Glauben schenkt", antwortete der Brahmane. "Ich weiss wohl was du tun wirst wenn ich dir die Türe öffne, du wirst dich auf mich stürzen und mich zerreißen und fressen".
"Lieber Brahmane, antwortete da der Tiger, du bist gütig und hilfsbereit, keinen der dich um Hilfe bittet lässt du ungetröstet, ein solch undankbares Geschöpf wie du denkst bin ich nicht. Ich gebe dir mein Wort, ich will nur schnell zum Wasser gehen und dann wieder in den Käfig zurückkehren. Dies eine Mal hilf mir, ich bitte dich sehr."Der Brahmane ließ sich erweichen und öffnete die Tür. Der Tiger sprang heraus und stürzte sich auf den Brahmanen und lachte:
"Zuerst will ich dich fressen, dann geh ich hinunter an den Fluss zum Wasser trinken".
"Gemach, Gemach" gebot ihm der Brahmane, lass uns erst sechs Richter finden, denen wir unseren Fall vorlegen können". Wenn diese finden, dass du richtig handelst, dann magst du mich fressen."Der Tiger war einverstanden. Und zusammen machten sie sich auf die Suche nach dem ersten Richter. Da trafen sie auf einen uralten Mangobaum, und der Brahmane ging auf den Baum zu und fragte:
"Mangobaum, magst du über uns urteilen?"
"Ja, erwiderte der Baum in welchem Streit denn?"
"Ich kam des Weges, trug der Brahmane den Fall vor, da rief mich dieser Tiger aus seinem Käfig heraus an und bat mich ihm die Türe zu öffnen, er müsse sonst vor Durst sterben. Er gab mir sein Wort, dass er mir kein Leid antue und nach dem Trinken gleich zurück in den Käfig gehe". "Ich hatte Erbarmen mit ihm, öffnete das Gitter und er stürzte sich auf mich und wollte mich fressen". "Ist das gerecht"?
"Ist das gerecht, ist das gerecht", wiederholte der uralte Mangobaum. An einem heißen Sommertag kamen die Menschen und erholten sich in meinem Schatten und erfrischten sich an meinen Früchten, die ich ihnen freigiebig spendete. Und als sie weggingen rissen sie meine Äste ab und streiften meine Blätter ab, ist das gerecht? Die Menschen sind undankbare Geschöpfe, es ist gut wenn der Tiger sie frisst".
Die beiden gingen weiter, da trafen sie auf ein Kamel, das unter einer schweren Last daherkam. Nachdem es die Klage des Brahmanen gehört hatte sprach es sein Urteil:
"Als ich jung und kräftig war, nährte mich mein Meister gut und trug Sorge um mich. Viele Jahre habe ich ihm gedient und bin darüber alt und schwach geworden. Nun gibt er mir nur noch schlechte Kost und mutet mir Lasten zu, die ich kaum mehr zu tragen vermag. Die Menschen sind grausame Geschöpfe, sie haben keinen Sinn für Gerechtigkeit. Deshalb handelt der Tiger richtig, wenn er unter ihnen sein Opfer sucht."Der Tiger knurrte vergnügt, und die beiden gingen weiter. Einen alten Ochsen, der sich am Wegesrand ausruhte, wählten sie als dritten Richter. Nachdem er die Klage des Brahmanen gehört hatte sprach er:
"Solange ich zur Arbeit tauglich war, pflegte mich mein Herr. Nun, wo ich nichts mehr tauge, hat er mich erbarmungslos davongejagt. Er hat vergessen wie viele Lasten ich ihm Jahr für Jahr getragen habe. Die Menschen sind so undankbar, und sie mögen vom Tiger gefressen werden."So hatten schon drei Richter gegen den Brahmanen gesprochen, doch dieser bewegte den Tiger, noch drei weitere Richter aufzusuchen. Er hoffte, sie würden zu seinen Gunsten aussagen. Hoch am Himmel folgte ein Adler dem Lauf der Straße und spähte nach Beute, ihn redeten sie an und erbaten sein Urteil.
"Wann immer die Menschen uns sehen, schießen sie auf uns. Sie klettern auf hohe Bäume und Felsvorsprünge um die Jungen aus unseren Nestern zu stehlen. Die Menschen bringen nur Kummer und Unruhe in die Welt. Mögen der Tiger sie ruhig alle verschlingen".
"Brahmane, brüllte hierauf der Tiger, und tanzte mit funkelnden Augen um den Brahmanen herum, alle entscheiden sich gegen dich!"
"Gedulde dich noch eine kleine Weile, bat der Brahmane. Es bleiben noch zwei Richter, wir wollen sie ebenfalls noch hören!"Der nächste Richter war ein Krokodil, das sich auf dem Sande des Flussufers sonnte. Auch es unterstützte den Tiger und sprach:
"Sobald wir nur unseren Köpfe aus dem Wasser heben, stehen schon Menschen bereit, um uns zu töten. Solange Menschen die Erde bevölkern, ist für uns keine Sicherheit. Der Tiger soll sie alle verschlingen."Die Augen des Tigers glühten vor Eifer, und der Brahmane begann sein Leben aufzugeben. Noch ein schwacher Schimmer Hoffnung blieb ihm, als er den sechsten Richter ansprach. Dieser war ein Schakal, der seiner Erzählung mit schiefgeneigtem Kopf aufmerksam folgte.
"Wie kann ich mich zum Richter machen, ohne den Vorfall mit eigenen Augen gesehen zu haben"? "Ich wünsche mir den Ort des Geschehens anzusehen, an dem sich eure Geschichte zugetragen hat."Der Brahmane und der Tiger führten ihn ins Dorf.
"Zeige mir genau, wo du standest," ordnete er dem Brahmane an.Und dieser stellte sich dorthin, wo er glaubte während des Vorfalls gestanden zu haben.
"Bist du gewiss, dass du dort standest," fragte der Schakal.
"Ich bin gewiss,"antwortete der Brahmane.
"Wo befand sich denn der Tiger?" fragte der Schakal weiter.
"In jenem Käfig"
"Wie, auf welche Weise?" fragte der Schakal den Tiger."Wo standest du genau, wie hast du den Kopf gehalten, gegen welche Gitterseite hast du dich gelehnt?"Der Tiger sprang in den Käfig und stellte sich genau so hin, wie er vormals gestanden hatte.
"Und diese Türe, fragte der Schakal, war sie offen oder war sie geschlossen?"
"Sie war geschlossen," erklärte der Brahmane.
"Ich nehme an, so war sie geschlossen", murmelte der Schakal vor sich hin und schob den Riegel vor.Nachdem er dies getan hatte, wendete er sich gegen den Tiger und rief:
"Undankbarer Tiger! Dieser Brahmane erbarmte sich deiner, weil deine Eingeweide brannten vor Durst. Weil du zu sterben meintest, schloss er die Türe auf. Zum Dank dafür willst du über ihn herfallen und ihn zerreißen? Bleib nun, wo du vorher gewesen bist und sieh zu, ob sich nochmals jemand deiner erbarmt!"So fällte der Schakal sein Urteil, mit einem schlauen Zwinkern der Augen zum Brahmanen strich er davon.