Isarkind
Autorin: Daniela Tax
Aufgewachsen in einer Villa, einer Hinterhausidylle mit rundum Garten und Vorderhäusern die mich sicher vor den Großstadtstraßen schützten. Jeden Werktag wurde ich Im Auftrag meiner Mutter im Kinderwagen in den Englischen Garten geschoben. Zu Diensten war die Frau aus dem Vorderhaus, ihren Namen konnte ich lange nicht aussprechen, sagte, "Tamala," und alle lachten. Nach genügend frischer Luft nahm sie den Weg zurück über die Leopoldstraße und erledigte ihren Einkauf beim Woolworth. Ich bekam süße Kokosmakronen in den Farben rosa, weiß und braun. Dann sagte sie verschwörerisch: "der Mami sagst du wir waren im Englischen Garten, gell". Ich: "ja". Beim Mittagessen zeige ich dann zum Ärger meiner Mutter wenig Appetit.
Ab meinem fünften Lebensjahr wurde ich an der Hand meiner Mutter zum Kindergarten geführt, der war einmal um den Häuserblock, ich musste keine Straße überqueren. Mit Schulbeginn holte ich Semmeln vom Bäcker, die ich wie Trophäen hochhielt. Auf dem Rückweg ließ ich das Wechselgeld auf den Bürgersteig fallen. Wie der Hänsel, der eine Wegschnur baut, ich stellte mir vor arme Bettelkinder würden sie aufklauben. Meinen Eltern war der Geldverlust all die Jahre nicht aufgefallen, manchmal war eine Silbermünze dabei und mein Herz pochte. Das Kunststück einhändig mit Leine und Hund entlang des fließenden und stockenden Autostroms Richtung Osten zu radeln beherrschte ich erst ab der dritten, vierten Klasse, eine große Baustelle an der Kreuzung, die erste Münchner U-Bahn entstand.Meine Erkundungen zogen mich weiter. Der englische Garten öffnete sich, eine natürliche Welt in alle Himmelsrichtungen. Wo traf ich zum ersten Mal auf die Isar, war es am großen Stauwehr nördlich des Mittleren Rings? Heute noch finde ich alles vor wie damals. Am Wehr sammelt sich das Wasser wie zu einem See, Enten schwimmen darauf warten auf Brotstückchen. Anstatt werfen Kinder Steine, lange nachdem sie versunken sind ziehen sie noch ihre Kreise. An der windgeschützten Seite genießen alte Leute auf Holzbänken die Sonne. Eine Brücke mit langgestrecktem Haus, Wasser- und Maschinengetöse. Die hohen Mauern hinter dem Wehr ziehen hinunter, ein Schwächegefühl im Bauch. Unten sammelt sich das Wasser, Fischer stehen in bis zu den Hüften reichenden Stiefeln, in gleichmäßigen Bewegungen werfen sie die Leine in die abwärtsfließende Isar und ziehen den Köder zu sich. Auf der anderen Seite wird das Wasser eingefangen, wirft sich mit aller Kraft in weißen Strudeln den Betonmauern entgegen, bevor es getrennt und in den Lauf des Isarkanals oder der breit fließenden Isar gezwungen wird.
Ich kam regelmäßig nachmittags, nach den Hausaufgaben, manchmal auch Sonntagvormittags, der Hund musste raus, ich auch. Dann stellte ich das Rad ab und ging über das Wehr. Ich wusste nicht warum der Strom anschwoll, woher er kam und wohin er wollte. Die Schneise zwischen den grünen Isarauen verriet es nicht.An einem besonders grauen Tag, fuhr ich mit heruntergerutschten Kniestrümpfen und Cordrock zum Kleinhesseloher See, seine eingefassten Wege, die Stahlgeländer versprachen nichts Neues. Ich dachte: "Warum muss immer ich mit dem Hund gehen," in Hörweite des mittleren Rings streifte ich weiter zur Isar. Die Kennedybrücke, oben das hin und her der Autos. Die gewaltigen Stützpfeiler, ein verlassener Pfad säumte den einbetonierten Strom, links die verfallenen Häuschen einer Strebergartensiedlung. Die Leine kurz, den Hund nah gepresst, stieg ich über herunter getretene Zäune, drückte Holztüren auf, sah alte Matratzen am Boden liegen, darauf Decken, nächtliche Quartiere für Obdachlose. Es stank. Die Luft war noch kühl, als ich weiterradelte, der Hund sprang hinterher, wir überquerten das Stauwehr, zwischen Kanal und Isar die Isarauen hinauf. Ein Mann trat aus dem Gebüsch, hatte er hier auf mich gewartet, ich wunderte mich, er trug keine Hose, wie er meinen Hund sah verschwand er wieder. Ich entdeckte einen Baggersee, umkreiste ihn, der Hund hatte sich müde gelaufen. Wir rasteten unter einer Weide. Zurück überquerte ich eine hölzerne Fußgängerbrücke und gelangte in einem weiten Bogen wieder nachhause.
Am Ende des 4. Schuljahres lernte ich heimlich reiten. Das Sparschwein geknackt, stand ich Sonntag früh morgens mit einer Freundin in der Unireitschule. Der Reitlehrer teilte an einer schwarzen Tafel mit Pferdenamen jedem Reiter ein Pferd zu. Ich bekam "Akelei". Ich sog den schweren Geruch des Pferdes ein, streichelte das weiche Fell, der Stallbursche sattelte und zäumte das Pferd auf, ein Trinkgeld hatte ich nicht bedacht, ich versprach: "beim nächsten Mal." Er half mir beim Aufsteigen, ich hörte das Knarzen des Ledersattels, meine langen Beine im Steigeisen umfassten den warmen Bauch des Pferdes. Akelei wusste was zu tun war, ich hielt mich gerade und spürte das Pferd in allen Gangarten. Als ich heimkam war das Haus still, niemand war bisher aufgestanden gewesen und so konnte ich mein Geheimnis einige Wochen für mich behalten. Später einmal fragten mich meine Eltern weshalb ich ihnen von meinem Vorhaben nichts erzählt hatte, ich konnte es ihnen nicht erklären.Schon die ersten Reitstunden führten mich in den Englischen Garten. Das Aussitzen im Trab verursachte Seitenstechen. Manchmal wenn ein Pferd nicht den vorgeschriebenen Sandweg, sondern darüber hinaus auf die Wiese lief, mahnte der Reitlehrer: "wenn es das Gras unter den Hufen spürt erinnert es sich an die grünen Almen seiner Jugend und vergisst seine gute Erziehung." Im Sommer überquerten wir die Isar, das Pferd durfte nicht stehenbleiben, sonst hätte es sich sinken lassen und im kühlen Wasser wälzen können.
In der Realschule gab es neue Freundinnen, im Sommer legten wir uns auf die große Wiese am Kleinhesseloher See direkt am Trampelpfad der hinüber zum Chinesischen Turm und weiter zum Monopteros führte, den wir liebevoll "MOPS" nannten. Oder an die Isar, direkt hinter dem Stauwehr. Dort lagen wir nackt auf der Kiesinsel, die der niedrige Wasserstand im Sommer preisgab. Wir wussten nicht was uns eine größere Überwindung kostete, die Kleider abzulegen oder in das eiskalte Wasser einzutauchen. Ich dachte nicht daran, dass das Wasser von den Gletschern der Alpen herunter geschmolzen war, dass die Isar an ihrem Oberlauf noch ungezügelt ist, ihr Flussbett ständig verlagert und in viele Wasserarme zweigt.Mit meinem Freund stand ich mit 16 an der Kanalbrücke hinter dem Stauwehr, wir sahen in das dunkelgrüne Wasser, er sprang, ich sprang ihm nach. Mit seinem ersten Auto fuhren wir an den Sylvensteinspeicher. Auf der glatten hohen Mauer suchten wir mit den Augen die Kirchturmspitze des versunkenen Dorfs. Mit dem Speichersee kann das Isarwasser aus dem Karwendel beliebig gestaut oder abgelassen werden, keine Überflutungen keine Trockenheit für die anrainenden Städte. Er sagte; "alles wird reguliert" ich schwärmte: "in Amerika gibt es längere Flüsse, Ebbe und Flut, Überschwemmungen, Hurricans......." er wand sich von mir ab, das Gespräch versiegte. Meine Vorfreude war groß, ein paar Wochen später flog ich nach New York um als Austauschschülerin in einer Provinz von Ohio Heimweh kennenzulernen. Ich sehnte mich jeden Tag nach einem Spaziergang mit dem Hund durch den Englischen Garten, einen Nachmittag an der Isar mit meinem Freund.
Als ich zurück kam war alles anders, ich schloss mit der 12. Klasse meine Schullaufbahn mit der Hochschulreife ab und schrieb mich in Landshut an die Fachhochschule für Sozialwesen ein. Ich bewohnte allein ein Häuschen "an der Press" am Hang des Isar Ostufers schaute über das viele Kilometer breite eiszeitliche Flussbett auf das westseitige Hochufer hinüber. Dazwischen die Isar, daneben träge und einbetoniert wie ein guterzogener Bruder der Kanal. Im Winter wenn im Schein der Straßenlaterne die Schneeflocken tanzten und eine dichte Schneeschicht die Motorengeräusche der Autos schluckte, träumte ich von der Endlosigkeit.Im Sommer bei Sonnenuntergang traf ich meine Freundin auf den alten Wehren wir balancierten barfuß über die Stauanlagen der Stadt. Ihre Haare waren rot, dieses frische dunkle Rot, dass Kastanien bekommen wenn sie herausbrechen aus ihrer stachligen Hülle. Ich mochte ihre Haare sie lagen glatt und fein auf ihren Schultern. Manchmal wenn ich ihr etwas erzählte, begannen meine Gedanken zu fließen. Ich war mir ihrer nie sicher, meistens kam sie zu mir, wir unternahmen Reisen mit meinem Auto, lasen Bücher aus meinen Regalen, kochten auf meinen Herdplatten. Wenn sie ging nahm sie den Zauber, den sie über meine Dinge geworfen hatte mit.
Studium, Praktikum, Prüfungen trugen die Zeit mit sich fort. Zurück in München, lag mein erster Arbeitsplatz im Norden der Stadt. Meine Wohnung aber im Süden am Thalkirchner Platz nahe der Tierparkbrücke. Der Verkehr vor dem Haus kam nicht zum Stillstand, jeden Wochentag reihte ich mich in die Autokarawane, in der Früh isarabwärts, aufgestaut von einer Ampel zur nächsten und abends isaraufwärts den gleichen Weg zurück.In diesen ersten Berufsjahren entdeckte ich München und seine Stadtteile, die doch früher nur aus Schwabing, Maxvorstadt und Innenstadt bestanden. Hatte ich mich mal wieder rettungslos verfahren, viele Straßennamen blieben mir fremd, suchte ich nach der Isar oder dem Hinweisschild "Tierpark", einem kleinen weißen Elefanten auf blauem Hintergrund, und war gerettet.
Ich wollte eine eigene Familie gründen, bevor ich an ein Kind dachte holte ich mir einen Hund ins Nest. Mit ihm entdeckte ich die Isar, vom Tierpark in südlicher Richtung aufwärts. Meine Tochter kam im Juni auf die Welt. Ihren ersten Sommer verbrachten wir, wann immer es heiß wurde in einer Sandkuhle unter dem schattenspendenden Ufergebüsch in der Höhe der Grosshesseloher Brücke. Ich hob den Säugling hoch, "hier gib auf sie acht" der Strom floss gemächlich, Licht flirrte über dem Wasser, Menschen bewegten sich über harte Kiesbänke, wir wuchsen zusammen.Mein Sohn wurde drei Jahre später geboren, mit ihm wechselte ich das Flussufer auf das eizeitliche Hochufer nach Harlaching. Ein paar Jahre später wechselte ich auch den Mann, frisch verliebt wie eine Quelle gurgelnd und tanzend. Meine Kinder, ich habe sie nicht gefragt bekamen einen neuen Vater, das alte Haus einen neues Interior, nur die Isar setzte ihren Lauf fort. Auf einem Spaziergang entriss sich mein dreijähriger Sohn zornig meiner Hand, glitt unter der Abzäunung hindurch und wollte sich den Isarabhang hinunterstürzen. Ich konnte ihm folgen und zwang ihn mit festem Griff zurück.
Meine zweite Tochter wurde geboren, ich schob den Kinderwagen um den Häuserblock, in den Forstenrieder Park mit seinen geraden, senkrechten und diagonalen Wegen, die Einkäufe wuchsen, die Familie forderte ihren Tribut. Ich wollte raus, eine Kinder CD, eine Leihgabe aus der Bücherei, weckte erneut meine Sehnsucht, diesmal nach dem Leben auf dem Land.Ich verließ München und die Isar und zog an den Ammersee. Die Ammer ist seine Namensgeberin und speist ihn, bevor sie den See als Amper wieder verlässt und ihr Wasser mit nach Norden nimmt, wo sie sich in Moosburg mit der Isar verbindet. Und weiter geht's, Isar, Iller, Lech, und Inn, fließen rechts zur Donau hin. Die Donau, der längste Fluss Deutschlands, fließt durch die Slowakei, Ungarn, Ukraine, Kroatien, Serbien, Rumänien, Bulgarien, Moldawien, wo sie endlich nach 2900 km das schwarze Meer erreicht.
Alles Wasser fließt ins Meer, wenn ich einmal den Weg nicht mehr weiß, wähle ich den Fluss als Begleiter.