Das Mädchen und der Vogel
Sie haben dir den Vogel im Käfig hereingetragen, ihn auf einen Tisch gegenüber dem Fenster gestellt. Eine bisher ungenutzte Wandseite deines Kinderzimmers.
Dein Blick war lang auf den Käfig und den Vogel gerichtet. Sein Gefieder wirkte frisch das Weiß seines kleinen Körpers war klar abgegrenzt von dem grün und schwarz seines Gefieders.
Der Käfig kostete ein Vielfaches vom Vogel. Der Käfig ist das Hauptgeschenk. Mag er dich an deinen Käfig erinnern, eingesperrt wie der Vogel. Ein Mitgefangener macht die Gefangenschaft leichter.
Eltern wissen immer intuitiv was für ihre Kinder das Beste ist.
Du hast dich mit dem Vogel angefreundet. Das Tier hat sich an dich gewöhnt, es lernte dich als Gefängniswärterin zu deuten. Es nutzte die Gelegenheiten die du ihm botest.
Zuerst verließ er seinen Käfig nicht trotz der offenen Tür. Tagelang wartete er, ob er deinem Angebot auch trauen könnte?. Du lerntest geduldig zu sein, ihn nicht dauernd zu beobachten, in Ruhe zu warten, dass er sich ganz von selber hinauswage.
Eine schwierige Übung für eine 10 jährige. Der Vogel brauchte die gleiche Behandlung wie du.
Später half er dir dich gegen deine Gefängniswärter aufzulehnen. Weißt du noch mit welchem Genuss du ihm die dünnen Seiten deines Schulheftes anbotest, er kniff sie mit dem harten Schnabel ab und hinterließ einen feuchten Kleckser auf dem Hefteinband.
Achselzucken, das Tier war unschuldig.
Während die in der Schule deine Zeit vergeudeten, wusstest du um den Vogel, der Stunde um Stunde im Käfig saß, und die Welt innerhalb der Gitterstäbe mit Gleichmut ertrug. Du tatest es ihm nach.
Wenn du mittags nach hause kamst war dein erster Weg zu ihm, er saß wie erwartet auf der kleinen Holzwippe. Du hast ihm mit dem Kopf zugenickt, den Ranzen von der Schulter herunterrutschen lassen und dich gefreut.
Du öffnetest seine Käfigtür. Dein Zimmer war erfüllt, die Tür zum Esszimmer hattest du offen gelassen. Du wusstest bald wird dich deine Mutter zum Mittagessen rufen. Das Wohlgefühl in deinem Zimmer bemächtigte sich Zimmer für Zimmer.
Du warst glücklich. Du hast dich neben seinen Käfig auf einen Stuhl gesetzt und bist ganz langsam näher gerückt. Bis der Vogel nicht mehr zusammenzuckte und du einen Finger durch das Gitter stecken konntest. Du spürtest, der Vogel möchte von dir gekrault werden. Du wusstest an welcher Stelle, hinter dem rechten Ohr, oder was das war mit dem dein Vogel hörte. Er hielt den Kopf so schief, dass du mit dem Finger genau dorthin langen konntest. Es war ein Dammbruch, brauchtest du anfangs viel Zeit um ihn berühren zu dürfen, so presste er sich bald fordernd in die "kraul mich Haltung" an die Gitterstäbe.
Auch wenn du dich weiterhin zu deinen Mitmenschen schroff und abweisend verhieltest, gegenüber dem Tier warst du eine zärtliche Freundin geworden.
Der Vogel nutzte nun gerne deinen hingehaltenen Zeigefinger als Transportstange, so konnte er bequem außerhalb seines Käfigs zum Sitzen zu kommen. Seine harten kühlen Krallenfüße schlossen sich um deinen Finger, du stauntest über sein Leichtgewicht.
Dieses Leichtgewicht übernahm bereits die Gestaltung deines Tages und selbst die Jahreszeiten fanden durch ihn Bedeutung.
Da war der Winter, draußen war es kalt und feucht, die Abende kurz. Der Vogel verstummte mit der beginnenden Dunkelheit und begann beim ersten Lichtstrahl, der den Vorhang deines Kinderzimmers durchbrachbrach, mit lautem Gezwitscher den neuen Tag.
Der Frühling kam, du stelltest den Käfig nachmittags draußen auf die Terrasse. Später entferntest du den Boden und stelltest das Gestänge in die Wiese. So hatte der Vogel ein kleines Rechteck Garten, konnte Gras und Erde zupfen.
Der Sommer brachte die langen Ferien. Und es war das erste Mal dass du dich von ihm trennen musstest. Da war es dir als würdest du dir selber fremd werden. Und wie du wieder heimkamst musstet ihr euch erneut aneinander gewöhnen.
Dann kam der Herbst das Licht schien mild in dein Zimmer und du konntest stundenlang mit dem Vogel reden. Es gelang ihm immer besser einige deiner Worte nachzuahmen. Zwei völlig unterschiedliche Wesen entwickelten einen gemeinsamen Sprachcode. Jeder Besucher deiner Familie musste so lange bleiben bis er darüber in Staunen versetzt worden war. Das konnte lange dauern, denn die nachgeahmten Worte des Vogels waren für Fremde nicht von dem Gezwitscher zu unterscheiden. Nahm sich der Besucher hingegen Zeit, auch die Zeit genau hinzuhören, dann konnte er den einstudierten Code heraushören.
Im Winter, wie die Blätter herunterwehten, und die hohen Pappeln vor deinem Fenster kahl wurden, stand sein Käfig tagsüber immer offen. Der Vogel wurde im Haus als freundlicher Mitbewohner betrachtet. Er ließ sich auf alle Köpfe als Landeplätze nieder und versuchte die Haare wie Nester mit den Flügeln flachzudrücken.
Wie es im Frühjahr warm wurde brachtest du den Käfig wieder ins Freie. Eines Tages saß der Vogel auf dem Käfig und die kleine Gittertür stand offen. Du hattest das Gefühl niemals einen Vogel besitzen zu können, dir niemals irgendetwas sicher sein zu können.
Du hast mit ihm gesprochen, mit ihm in den vertrauten Worten gegurrt und er legte seinen Kopf zur Seite, plusterte sich auf und hörte dir zu. Er zuckte zusammen, wurde dünn, wie ein Krähenschwarm von der alten Eiche über ihn hinwegflog. Vorsichtig zogst du an dem Drähtchen seines kleinen Spiegels. Er klapperte leise im Käfig. Der Vogel hangelte sich kopfüber, zog sich mit dem Schnabel an den Stangen herab und drehte sich in den weit geöffneten Käfig. Wie du die Tür geschlossen hast, war er bereits beschäftigt sein Spiegelbild mit herauf gewürgten Körnergemisch intensiv zu füttern.
Nachdem der Vogel nun schon einmal unter offenem Himmel bei Dir blieb, war das ein weiterer Beweis eurer starken Bindung. Du fühltest dich wie ein Zirkusdirektor, es war kein Tiger, es war ein kleiner Vogel, den du domptiert hattest. Doch das schmälerte nicht deinen Triumph.
Du nahmst die Herausforderung des neuen Kunststückes an, und ließest ihn draußen frei. Die Freistunden waren von dir genau geplant. Es geschah nur in den Nachmittagsstunden. Die wichtigsten Schularbeiten mussten erledigt sein. Der Kitzel an Freiheit bedurfte viel Geduld und Gelassenheit. Jedes Gefühl von Ungeduld, Stress oder Ängste würden den Vogel vertreiben.
Bei schönem Wetter hast du den offenen Vogelkäfig auf die Terrasse gebracht, darauf ein kleines Tonbandgerät gestellt, und das Band mit der aufgenommenen Stimme des Vogels abgespielt. Nach einer Weile kam der kleine Grüne heraus, setzte sich auf das Gerät und beschimpfte in wilden Tönen den Lautsprecher. Du stelltest dir immer vor, dass er sich über seinen Kumpel ärgerte, den er zwar hörte der sich ihm aber nie zeigte.
Einmal wurde dir sein Gequatsche zu langweilig und in einem Anfall von Bösartigkeit hast du mit dem Arm über den Käfig gewischt? Der Vogel schreckte auf und flog davon. Du folgtest ihm mit den Augen, ein kleiner werdender grüner Punkt. Da war es wieder da, das Gefühl, dass dir dieser Vogel niemals gehören würde.
Der Vogel landete in den hohen Pappeln die das Grundstück begrenzten. Du dachtest, das ist seine erste Flugstunde. Und folgtest ihm mit dem klappernden Käfig über den Garten. Irgendetwas erschreckte ihn abermals und er flog in das nachbarschaftliche Grundstück. Du konntest ihn nicht mehr sehen. Du bist mit dem baumelnden Käfig, auf die Strasse hinausgegangen, außen um den Häuserblock, wolltest beim Nachbarn läuten und dich erklären. Du kamst nicht dazu.
Wie du vor dem fremden Grundstück standest, sahst du bereits auf der gegenüberliegenden Seite der Straße deinen Vogel auf dem Dach einer Tankstelle sitzen. Du bist über die große Straße gegangen, hast dich gut sichtbar für den Vogel vor die Tankstelle gestellt und gegen das Hupen und Brummen der Autos mit dem Spiegel im Vogelkäfig geklappert. Dabei hast du nur den Vogel fixiert.
Wie lange bist du dort gestanden, lange, so lange wie der kleine Vogel auf dem Dach der Tankstelle saß. Bis er sein vertrautes Gefängnis endlich gegen die laute und ungewohnte Freiheit eintauschte. Deine Hartnäckigkeit und dein Mut wurden belohnt.
Es kam der Sommer und mit ihm die langen Sommerferien. Der Vogel blieb bei Onkel und Tante zurück, die sich verbürgten gut für ihn zu sorgen.
Auf der Heimreise erzählte dir deine Mutter dass der Vogel weggeflogen sei. Sie wusste es schon länger, wollte dir aber den Urlaub nicht verderben. Er wäre, wie es seine Gewohnheit war im Haus herumgeflogen, ein Fenster sei versehentlich offen gestanden und er wäre verschwunden.
Zuhause versuchte deine Tante dich in den Arm zu nehmen, sie sagte: "wahrscheinlich war es ihm zu einsam und er hat nach dir gesucht."
Was dir blieb war der Käfig und die Geschichte.