Gebrüder Grimm
Interpretation: Fundevogel
Fundevogel Zitat aus dem Märchen: Das aber, das auf dem Baum gefunden worden war, und weil es ein Vogel weggetragen hatte, wurde "Fundevogel" geheißen.
Das Kind hat seinen Namen "Fundevogel" nach der Begebenheit seines Auffindens bekommen. Das ist eine Art von Namensgebung wie sie bei den indianischen Völkern bekannt ist. Das Kind bekommt einen Namen, der sich auf ein "besonderes" Ereignis rund um die Geburt, oder der frühesten Lebenszeit eines Kindes bezieht. (Beispiel: So wurde der Sioux mit dem Namen "crazy horse" nach einem wahren Ereignis benannt. Seine Mutter hatte ihn bei der Arbeit als Säugling unter einen Baum gelegt. Da geschah es dass es von einer wilden Pferdeherde überrannt wurde und dabei unverletzt blieb.) Durch diese Namensgebung wird das Kind in einem größeren Zusammenhang mit der Welt gesehen. Es ist nicht nur das Kind der leiblichen Eltern, sondern vielmehr ein Kind der Welt. So mag man die Mutter im Märchen, deren Kind entrissen wurde, nicht der Nachlässigkeit beschuldigen, sondern dieses Ereignis als schicksalhaft ansehen. Fundevogel ist ein Überlebender, und damit zeichnet sich bereits sein besonderes Schicksal ab.
Dass ihn gerade ein Raubvogel der Mutter entrissen und in die Höhe eines Baumes gesetzt hat macht deutlich welche seelische und geistige Kraft in dem Kind steckt. Diese Bewegung, aus dem Schoß der Mutter, in die Höhe des Baumes ist schwindelerregend. Der Platz auf dem Baum zeigt an, dass das Kind irgendwo zwischen Himmel und Erde ist.
Fundevogel ist ein Findelkind Berühmte Findelkinder waren: Romulus und Remus, Kaspar Hauser, der Wolfsjunge oder Moses im Bastkörbchen. Früher waren Findelkinder rechtlos, sie waren Knechte oder wurden als Sklaven ausgenutzt. Die Eltern waren unbekannt und sie gehörten dem der sie gefunden hatte, bzw vor dessen Tür sie gelegt wurden. Im Märchen gehört das Kind dem Förster, er hat das Kind gefunden, er hat es vom Baum geholt und es auf die Erde gebracht. Das ist wie eine zweite Geburt. Er hat dem Kind einen Namen gegeben.
Die seelische Entwicklung eines Findelkindes ist von Anfang an schwierig, bevor es überhaupt Wurzeln schlagen und sich in der Welt zuhause fühlen kann, verliert es seine Eltern bzw wird von den Eltern verlassen. Es fühlt sich mehr wie andere Kinder in dieser Welt verloren. Das Urvertrauen ist zutiefst erschüttert. Fundevogel weint wie ein Tier, er ist im Baum verloren und muss sterben wenn er nicht gefunden wird. Wenn im Märchen geweint wird ist ein Tiefpunkt erreicht.
Der Förster dachte, Zitat: "du willst das Kind mit nach Haus nehmen und mit deinem Lenchen zusammen aufziehn."
Der Förster schafft im Wald Ordnung. Er kennt sich mit den Pflanzen und den Tieren im Wald aus. Er denkt praktisch, und fragt nicht woher das Kind kommt, sondern sucht gleich eine Lösung für das Kind. Er bringt es zu seiner Tochter, dem Lenchen, die im gleichen Alter ist. Das ist ein wenig wie in der Baumschule, da stehen die Bäumchen die im gleichen Jahr gepflanzt wurden zusammen. Nach dem Motto, "ein Kind gehört unter Kinder".
Lenchen Zitat aus dem Märchen: Fundevogel und Lenchen hatten sich so lieb, nein so lieb, daß, wenn eins das andere nicht sah, ward es traurig.
Fundevogel hat in der gegenseitigen Liebe zu Lenchen sein Zuhause gefunden. Somit hat sie ihn ganz auf die Erde gebracht.
Sanne, die Köchin, oder doch die Frau des Försters? Ihre Gefühle zum Förster sind mit Angst beschrieben Zitat: da wurde ihr grausam Angst und sie sprach vor sich "was will ich nun sagen, wenn der Förster heim kommt und sieht, daß die Kinder weg sind?"
Ihr Verhältnis zum Förster ist weniger durch Liebe und Respekt, als durch Funktionalität und Abwesenheit (sie ist im Haus mit kochen und Kinder hüten zuständig , er geht bereits früh aus dem Haus) gekennzeichnet.
Die Sanne will Lenchen zu ihrer Verbündeten machen, Zitat Sanne: "Wenn dus keinem Menschen wiedersagen willst, so will ich dirs wohl sagen." Ist sie eifersüchtig auf Fundevogel? Oder ist die alte Sanne eine weise Frau, die erkennt dass die Kinder in einem Alter sind wo die enge Beziehung der beiden entwicklungshemmend ist? Durch ihre Initiative, wird eine unglaubliche Entwicklung der Kinder vorangetrieben.
Die Stärke der Kinder besteht aus ihrem Zusammenhalt, dessen sie sich immer wieder, wie mit einer Zauberformel vergewissern: Zitat: sprach Lenchen zum Fundevogel: "verläßt du mich nicht, so verlaß ich dich auch nicht. "So sprach Fundevogel, "nun und nimmermehr."
Zusammen sind Lenchen und Fundevogel, Gefühl und Bewusstheit, Wahrnehmung und Intuition, das Kollektive und das Individuelle.
Während der Verfolgung bleiben sie zusammen aber wandeln sich, jedes in seiner Art, man könnte sagen sie arbeiten den Unterschied immer feiner heraus, sie ergänzen sich, und nehmen von Wandlung zu Wadlung eine immer höhere Entwicklungsstufe ein.
Rosenstock und Rose: Der Rosenstock bildet den Schutz, die Basis und die Nahrung aus der die Rose wie eine Krönung hervorgeht. Doch die Sanne weiß wie man die verwandelten Kinder verletzten kann, Zitat: "ihr hättet das Rosenstöckchen sollen entzwei schneiden und das Röschen abbrechen und mit nach Haus bringen".
Kirche und Krone: Sie sind ein Kulturprodukt, Insignien der Macht, der weltlichen und geistlichen Macht. Die Kirche bildet das Fundament und den Schutzort für die Krone. Die Sanne kennt die Schliche, Zitat: "warum habt ihr nicht die Kirche zerbrochen und die Krone mit heim gebracht?"
See und Ente: Der See, das Element Wasser, der Himmel spiegelt sich darin. Sich weit machen wie ein See. See und Seele. Ein Bild der Unendlichkeit. Darauf die Ente sie kann überall hin schwimmen, sie ist in ihrem Element zu hause. Ein sehr friedliches und vollendetes Bild.
Am Ende zieht die Ente die Sanne in das Wasser, sie ertrinkt. Die Kinder haben den Tod überwunden. Sieht man jedoch die Sanne als die weise Alte, hat sie mit der Vollendung der Kinder ihre Aufgabe erfüllt und lässt sich von den Kindern ins Wasser ziehen.
So wachsen die Kinder über ihre Eltern hinaus.