Dornröschen: Interpretation
Das Dornröschen erzählt vom Kreislauf des Lebens, vom Geboren werden, Sterben und Wiedergeboren werden. Das schlafende Dornröschen hinter der Dornenhecke ist ein Bild des Kreislaufs der Natur. Im Winter schlafen die Pflanzen unter der Erde, die Samen verharren, Tiere halten Winterschlaf, und Winterstarre, der Frosch auf dem Grunde des Tümpels, der Igel unter dem Laubhaufen, der Bär in der Höhle.
Rund um Lichtmess, Anfang Februar, erwacht das Licht des Morgens früher, das blasse Blau des Himmels ist nicht mehr so fern, der Schnee bildet nur eine leichte Decke und darunter wartet der Keimling, im alte Laub des letzten Jahres aufzubrechen.
Im Märchen schläft die Königstochter nicht ein Jahr, nicht ein Jahrzehnt, sondern es werden 100 Jahre. Auf der Erde waren inzwischen zwei Generationen geboren und wieder gestorben, nur ein alter Mann wusste noch aus den Erzählungen seines Großvaters über das Schloss und seine Bewohnerin zu berichten.
Das Dornröschen erzählt wie Ereignisse nach 100 Jahren Geschichte werden.Wenn keine Zeitzeuge mehr berichten können und selbst die Erzählungen und Bilder der Eltern und Großeltern verblasst sind. In diesem Zeitraum sind auch Schuld und Wiedergutmachung verjährt. Das alte Jahrhundert ist abgeschlossen und es beginnt ein neues Jahrhundert.
- Heute liegt das Attentat auf den habsburger Thronfolger Erzherzog Ferdinand und seine Gemahlin in Sarajewo und der anschließende Ausbruch des 1. Weltkrieges, 100 Jahre zurück.
- Kürzlich lauschte die ganze Welt den letzten jüdischen Zeitzeugen, die im Januar 1945, vor 70 Jahren, von der russischen Armee aus Auschwitz befreit wurden.
- Ich kann mich an den Fall der Mauer 1989 zwischen Ost- und Westdeutschland erinnern, es liegt nun 25 Jahre zurück.
Menschen die in unfreien, menschenunwürdigen und lebensbedrohlichen Situationen gefangen sind können sich zurückziehen. Im Innersten beschäftigen sie sich mit etwas Schönem und Heilem um ihre Seele herum ziehen sie eine Mauer hoch, lassen Dornengebüsch ranken, dass jeden Angreifer abschreckt und Eindringlinge festhält.
Dafür gibt es viele geschichtliche Beispiele aus den letzten 100 Jahren:
- So hat ein junger Soldat "Hugh John Lofting" in den Schützengräben des ersten Weltkrieges Kapitel für Kapitel der wunderbaren Geschichte des Landtierarztes Dr. Doolittle" geschrieben, der mit seinen vierbeinigen Patienten reden konnte. Frau und Kinder des Soldaten erwarteten im fernen England jede Woche die Feldpost mit einem neuen Kapitel zu der Geschichte. Er wollte ihnen nicht von der Angst, dem Tod und Schrecken ringsum schreiben. Noch heute werden die Geschichten von Dr. Doolittle in der ganzen Welt von Kindern gelesen.
- Ein junger jüdischer Arzt Viktor E. Frankl, hat in den Jahren im KZ eine Therapieform entwickelt, er nannte sie Sinn-, oder Logotherapie, er hatte sich geschworen, falls er die Massenvernichtung überlebt diese Therapie aufzuschreiben und zu praktizieren.
- Eine junge jüdische Mutter, ihr Name Alice Herz-Sommer überlebte mit ihrem kleinen Sohn Theresienstadt. Als gelernte Konzertpianistin war es ihr erlaubt zu den monatlichen Konzerten für die Mitgefangenen zu musizieren. Sie schrieb 70 Jahre später in ihren Memoiren Ein Garten Eden inmitten der Hölle: "diese Zeit war trotz der erlittenen Qualen die wichtigste, und schönste Zeit in meinem Leben." Ihr Sohn ist nach der Shoa in den USA ein berühmter Komponist geworden.
Dornröschen erzählt über die Auserwählten.
Im Märchen ist es eine junge Königstochter, gerade mal 15 Jahre, auf der Schwelle zur Frau, eine langersehnte Tochter, eine Hoffnungsträgerin, eine Erbprinzessin, ihr wurde der Segen der weisen Frauen des Landes erteilt.Ein Segen ist wie eine göttliche Krönung.
Ich erinnere mich an meine erste Tochter, wie viel tiefe Freude hat sie in mir ausgelöst. Es war ein heiliger Moment, sie würde das Erbe der Ahninnen in die neue Zeit tragen. Diesem Kind möge alles Schwere erspart bleiben, es möge glücklich, schön, erfolgreich und gesund sein, das Fest zur Geburt der Königstochter war Ausdruck von Fülle und Glück die goldenen Teller sprechen von einem goldenen Zeitalter.Dornröschen lehrt uns über die Bedeutung der Zahlen.
Es gibt meines Wissens kein anderes Märchen in der Sammlung der Brüder Grimm, indem soviele Zahlen vorkommen wie in Dornröschen. So sind es 12 goldene Teller, für 12 weise Frauen ihr Segen sollte ihr hold und gewogen sein, wie Jesus mit den 12 Jüngern. Hier ist etwas Ganzes abgebildet, in der Mitte die Erbprinzessin und um sie herum, wie der Jahreskreis die Monate, golden wie das Licht der Sonne.Nun waren es aber 13 weise Frauen, eine ungerade Zahl, eine Unglückszahl, wenn man an festen Werten, am Dutzend festhalten möchte, ist das dreizehnte ein Störenfried, es zerstört die alte Ordnung. Und birgt die Gefahr des Umsturzes und der Revolte. Im Märchen von Dornröschen heißt es "sie wollte sich rächen, weil sie nicht eingeladen wurde.
Dornröschen lehrt uns über die Rechtsordnung. Unrecht setzt sich solange fort bis eine Art Gericht, ein Schuldausgleich oder ein Friedensvertrag ausgehandelt wird, oder aber durch Krieg, einen Vergeltungsschlag der Leid mit erneutem Leid ausgleicht.Der König hat sich schon früher etwas zu Schulden kommen lassen, es ist eine alte Schuld, ein Anspruch der seit Jahren nicht eingelöst wurde, eine Macht die unterdrückt wurde und nun ihren Anspruch auf das Kind und das zukünftige neue Zeitalter geltend macht.
Rache ist eine, außerhalb der Rechtsordnung vollzogene Strafe für ein erlittenes Unrecht. Die Rache der weisen Frau ist ein Todesfluch, die Königstochter soll in ihrem 15. Lebensjahr von einer Spindel gestochen tot umfallen. Sie muss sterben bevor sie erwachsen und eine Frau werden kann.Diesen Fluch scheinen viele Mädchen in sich aufgenommen zu haben die nicht erwachsen werden wollen, die lieber hungern, sich die Brüste abschnüren und die hervortretenden weichen Rundungen durch unnachgiebigen Sport und Nahrungsverzicht gewalttätig abtöten. So ist die dreizehnte weise Frau immer noch tätig.
Dornröschen erzählt wie aus einem Fluch ein Segen werden kann. Und so geschieht es auch im Märchen, der Fluch wird abgemildert, und weit voraus gedacht ist er dem Mädchen zum Segen geworden.Es ist ein Verhandlungsglanzstück: erst geben elf ihren Segen, die 13. unterbricht und erklärt den Tod mit Spindelstich, worauf die 12. Weise noch ihren Segen übrig hat und den Fluch abmildert auf eine 100 Jahre anhaltenden Schlaf. So gesehen haben diese 13 Weisen das Schicksal der Erbprinzessin untereinander ausgeschachert.
In den alten Kalendern, die nach dem Mond rechnen hat das Jahr 13 Monate. Wie der weibliche Zyklus nimmt der Mond zu und wieder ab, wechselt zwischen den sichtbaren Mond- und den unsichtbaren Neumondphasen. Geburt, Wachstum und Tod sind in einem natürlichen Zyklus aufeinander bezogen, die weisen Frauen bringen dieses Wissen aus den alten Zeiten mit. Man kann nicht nur ihren hellen und wohltuenden Segen erbitten und ihre dunkle unergründliche Seite ausladen.
Es ist gerade diese dunkle und unergründliche Seite des Lebens, die das Leben immer wieder wendet.
Dornröschen erzählt über das Unrecht der Kollektivschuld.Der König ist nicht einsichtig, er fügt sich nicht dem Verhandlungsgeschick der weisen Unterhändlerinnen. Er übt erneut seine Macht aus. Der König ist grausam, sein Vergeltungsschlag richtet sich gegen alle Frauen.
Alle für einen, eine ganze Gruppe wird für die Missetat eines Einzelnen bestraft. Die Nazis belegten das Volk der Juden mit einer Kollektivstrafe, bis hin zum Genozid. Kollektivstrafen gehören dem rechtsextremen Denken an, in unserem Rechtsverständnis sind Kollektivstrafen im Gegensatz zur Individualstrafe unrechtmäßig.Alle Spinnräder werden verbrannt, das Handwerkszeug, die Einnahmequelle und Grundlage der Eigenständigkeit von Frauen. Es ist noch mehr, es ist das Naturrecht der Frauen über das Leben, Geburt, Familie, und Tod zu bestimmen. Möchte der König den gesponnen Schicksalsfaden selbst in die Hand nehmen? Wo mit Feuer gezündelt wird herrscht Krieg und Unterdrückung.
Dornröschen erzählt über den Schutz der Kindheit.Gleichzeitig wächst im Schutz des Schlosses die Königstochter heran. Sie ist fern der harten Realität, wie in einem Kokon. Darin entfalten sich die wunderbaren Segenswünsche der Frauen, Tugenden und Liebreiz und alles Schöne was ein Mensch hervorbringen kann. So heißt es im Märchen: "dass jederman, der es ansah, lieb haben musste".
Die Aussen und die Innenwelt in dem Märchen sind gegensätzlich, aussen im Königreich herrscht Krieg, innen, im Schloss wächst ein heiliges Kind heran.Das erinnert mich an den Dalai Lama, der trotz Krieg und Vertreibung im Schutz des Klosters und der liebevollen Unterweisung der Mönche eine Ausbildung in tibetischem Buddhismus, tibetischer Kultur, Sprache, Schrift und Allgemeinwissen erhielt, anfangs in Tibet, später im Exil. Er gilt heute weltweit als geistiger Führer für den Frieden. Besonders im Märchen, aber auch in den Mythen und Religionen ist die Wandlung von dem Bösen ins Gute, aber auch von dem Schweren wieder zurück in das Leichte.
Dornröschen tritt erst an ihrem 15. Geburtstag aus dem Märchen hervor und wird lebendig.Jetzt wird das Mädchen lebendig, wir erleben mit wie sie neugierig umhergeht, in Kammern und Stuben schaut, was sie denkt "hier war ich noch nie", wie sie den Turm entdeckt und die Wendeltreppe hinauf geht. Wir hören wie sie die alte Frau freundlich anspricht: "guten Tag altes Mütterchen" und auch wir "müssen sie liebhaben". Wir wissen es, sie geht ihrem Schicksal entgegen, sie sucht und gleichzeitig wird sie wie magisch angezogen, letztlich von der Spindel, die lustig hin und herspringt.
Das ist wie heute in der Werbung, es reicht nicht ein Schild aufzustellen, es muss animiert sein, leuchten, herumspringen, vielleicht noch piepsen "hier bin ich".
Es ist die Lebendigkeit, die eine magische Wirkung auf die Königstochter ausübt. Sie fasst unwillkürlich hin, das mag ein Schreck gewesen sein, ein heftiger Schmerz, das Kokon zerplatzt, ein Moment des Erwachsens, doch anstatt zu erwachen fällt sie in einen tiefen Schlaf.Das Märchen vom Dornröschen erzählt von einer Schein- und Traumwelt.
Wie lieblich ist das verwunschene Zauberschloss, Mensch und Tier versunken im Schlaf, schon die Brüder Grimm haben das Märchen reich mit Worten geschmückt. Nach ihnen kam Walt Disney, er hat Dornröschen in den 60er Jahren mit großen Erfolg verfilmt, mit dem Prädikat süß und kitschig. Das Schloss ist das Wahrzeichen des riesigen Unterhaltungsparks "Disney Land" in Kalifornien. Es ist dem Schloss Neuschwanstein nachempfunden, auch so ein Traumschloss, das meistbesuchte in ganz Deutschland, Es wurde nach der Vision Ludwig II. erbaut. Auch er hatte mehr seine Phantasien ausgelebt, als seine Politik in der Realität zu verankern.Die spitze Spindel ähnelt einer Spritze, einer Droge, die junge Menschen nehmen, weil ihr Hunger nach Leben ungestillt ist. Weil es lohnender erscheint in der Welt der Phantasie und der Vorstellungskraft zu leben, als sich mit den Wirren der Welt auseinanderzusetzen. Wenn sie es nach Jahren schaffen die Traumwelt wieder zu verlassen, braucht es lange bis sie sich in der Realität wieder zurechtfinden aus der sie vor langer Zeit geflüchtet sind.
Eine andere Sichtweise, weniger phantastisch ist die Traumwelt selbst, die uns jede Nacht in ihrem Schosse wiegt. Die Königstochter könnte Träumen, was macht man sonst wenn man so lange schläft.Was geschieht während Dornröschen schläft und träumt?
"Was ist hinter der Dornenhecke," fragt der junge den alten Mann. Der erzählt: "vor langer Zeit hat hier einmal ein Schloss gestanden, darin schläft eine Königstochter…" . "Ich will sie sehen," sagt der Junge.Er scheint sich mit Traumwelten auszukennen, er ist wohl von dem Schlag, ich glaube nur was ich auch sehe. In den alten Geschichten ist er König und Jäger, seine Stärke ist ähnlich wie ihre, er spürt die Magie des Ortes, er geht den gleichen Weg wie sie, es ist weniger sein Tun, als sein Nichttun was ihn zum "Augenöffner" macht. Er kann sie spüren, wie der Jäger das Wild, sie sind Seelenverwandt.
Die Dornenhecke öffnet sich von alleine, die Rosen erblühen. Die Natur weiß es, es ist die Zeit der Reife, und der Hochzeit.
In den alten Versionen des "Dornröschen" heißt es er fand sie schlafend vor und drang in sie ein, zeugte Kinder mit ihr. In diesen alten (nicht kindergerechten) Geschichten hieß sie Thalia, und gebar Zwillinge.
Die alten Versionen von Dornröschen erzählen, dass ihr Erwachen ihr ureigenster, innerster Impuls war.
Sie sei bei der Geburt aufgewacht, oder aber durch das Saugen eines Kindes an ihrem kleinen Finger, unter dessen Nagel sich der verfluchte Flachsschiefer befand.Der Name der Zwillinge Luna und Sole verweisen auf den Beginn einer neuen Welt in der die Gegensätze, wie hell und dunkel, männlich und weiblich, Sonne und Mond den gleichen Ursprung haben.
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