Die sieben Raben; Interpretation
Die Stimmung des Märchens
Märchen erzählen ist am Schönsten, wenn wir es in unserer Tiefe bewegen.
Manche Märchen wirken beim ersten Mal lesen sehr kindlich und einfach. So erging es mir bei "den sieben Raben", die Sprache ist so niedlich, wie die kleine Heldin des Märchens. Aber spüre ich genauer hin, entdecke ich die Größe dieses Zaubermärchens, dessen anfänglicher Konflikt all das Schwere, Dunkle und Schicksalhafte in sich trägt. Und dem gegenüber leuchtet das Mädchen wie ein Stern, leicht und zuversichtlich umfasst sie auf der weiten Reise die ganze bekannte und unbekannte Welt. Als wäre das ganze Weltgeschehen eine Kugel, die sie in ihren Händchen rollt.Vom Wünschen und Verwünschen
Das Märchen der sieben Raben beginnt mit einem Mann, er wünscht sich sieben Mal ein Mädchen, sieben Mal ist es ein Junge. Eine Orgelpfeife, eine ganze Bande an Jungs. Dann endlich, die Frau ist wieder in guter Hoffnung und bekommt ein Mädchen, sein Wunsch geht in Erfüllung, doch mit der Freude zieht die Angst und die Sorge ein, es wäre zu schwach und könnte sterben.Ein heiliges Ritual
Der Mann bestimmt einen der Söhne mit dem Krug Quellwasser aus dem Brunnen zu bringen. Das Mädchen könnte sterben, bevor er das Neugeborene mit dem Wasser gereinigt und übergossen hat, um es zu weihen und damit der geistigen und himmlischen Welt anzuvertrauen.Im christlichen Glauben wurden die Menschen negativ, also mit Ängsten bekehrt. Die Angst ein Neugeborenes würde ohne eine Nottaufe in die Hölle gestoßen, ist bedrückend.
Die Jungen freuen sich über die Geburt der Schwester, jeder will die wichtige Aufgabe übernehmen mit dem Krug das Wasser zu schöpfen, darüber zerbricht der Krug.Der zerbrochene Krug, ein Bild für ein endgültiges Zerwürfnis.
Was ist das für eine Art Zerwürfnis. Mit der Geburt des Mädchens tritt ein Individualisierungsprozess ein, das Mädchen unterscheidet sich von den Jungen, die bisher in einem "Wir" Pulk eine Einheit bildeten. Jeder einzelne Junge will aus der Masse hervortreten, jeder will das Wasser für die Schwester schöpfen. Die Individualisierung ist ein wichtiger Prozess der Reifung, was aber zerbricht ist die Einheit der Gemeinschaft.Ein sensibler Moment, da entsteht eine Pause in der Geschichte, es ist der Übergang, etwas Altes ist zerbrochen und etwas Neues noch nicht etabliert. So geschieht einen kurzen Moment nichts, der Vater wartet, die Söhne, er sieht sie nicht als Individuen sondern als "die Jungen" kommen nicht zurück. Wird das Mädchen leben oder sterben, wird es geweiht oder bleibt es ungeweiht?
Eine Verwünschung wirkt wie ein starker Zauber.
Der Vater ist tief enttäuscht, sein Wunsch nach einem Mädchen ist der Wunsch nach etwas einzigartig Schönem und Lieben in einem harten, arbeitsreichen Leben. Er vermutet die Jungen spielen wieder, anstatt den Ernst zu erkennen, und sofort seinem Ruf nachzukommen. Aus tiefstem Herzen kommen böse Worte über die Lippen und werden deutlich ausgesprochen. "Ich wollte ihr wäret Raben" damit verwünscht der Vater seine Jungen zurück in das Tierreich, in einen Schwarm schwarzer Vögel.Raben
Raben mit ihrem dunklen Gefieder erinnern an die Nacht, die alles verbirgt und an die andere, finstere Welt, die Welt der Toten. Warum hat der Vater das Wasser nicht selbst geholt, wenn es ihm so heilig war, warum hat er seinen Söhnen solches Unrecht angetan?Unrecht
In der Tat es gibt viel Unrecht in Familien, wie in diesem Märchen, wenn ein Kind bevorzugt und andere zurückgesetzt werden. Die Ursachen aber liegen nicht in den Kindern, sondern innerhalb der Familiengeschichte, dem Zeitgeschehen und dem vorangegangenem Unrecht. Einmal ausgesprochen, kann die Verwünschung nicht zurückgenommen werden. Endgültig wie der zerbrochene Krug.Familiengeheimnisse
Das Mädchen wächst heran, ist gesund und wird von Tag zu Tag schöner, sie lebt in einer heilen Welt, geschützt wie in einem Kokon. Sie ist der Trost ihrer Eltern, ein Augenstern. Umso überraschter ist das Mädchen wie sie aus der Nachbarschaft erfährt, sie hätte Brüder und sie selbst wäre der Anlass an ihrem Verschwinden gewesen. Sie fragt die Eltern umgehend und erfährt, sie ist ein Schwesterlein und schon ist sie fest entschlossen ihre sieben Brüder zu finden und zu erlösen.Die Geschwisterkonstellation
Ein Schwesterlein und sieben ältere Brüder ist wie eine Vollendung, eine Krönung. Das Märchen, "die sieben Raben", hat in sich eine Kraft, die die Handlung nach eigenen Gesetzen voranzieht. So ein Gesetz ist die Verbundenheit der Geschwister. Die Jungen wissen nur von der Existenz ihrer Schwester, ihnen blieb keine Zeit sie kennenzulernen und das Mädchen wusste lange nicht einmal von der Existenz ihrer Brüder. Diese Verbundenheit ist dennoch so stark, dass das Mädchen voranschreitet und die Rabenjungen in einem Glasberg sucht, der sich außerhalb räumlicher und zeitlicher Maßstäbe befindet. Und die Verbundenheit der Rabenbrüder ist ebenso stark, dass sie im Glasberg auf die Erlösung durch ihre Schwester ausharren.Unrecht kann nur mit Recht entgolten werden.
Das Mädchen, obwohl unschuldig, was der Vater hervorhebt: "es war ein himmlisches Verhängnis und deine Geburt ist nur der unschuldige Anlass gewesen," kann den Jungen ihr Recht zurückgeben indem sie ihr Leben für die Brüder einsetzt.Die Reiseplanung
- Das Mädchen plant ihre Reise, indem sie vier Dinge mitnimmt;
- den goldene Ring, ein Wiedererkennungszeichen, ein Symbol der Treue und der Ewigkeit, die wie der Kreis in sich geschlossen ist.
- einen Laib Brot, wie der mütterliche Leib, ein Bild des Nährens.
- ein Krug Wasser zum Schöpfen und Trinken, nach einem zerbrochenen Krug ein gutes Zeichen, für einen guten Ausgang.
- und ein Stühlchen zum Ausruhen, der Schlaf gehört zum Leben wie das Brot und das Wasser. Während des Ruhens vertraut das Mädchen, lässt andere Kräfte und Verborgenes wirken wie die Träume in der Nacht.
Die Reise, eine geheime Mission
Sie plant geheim, dadurch ist sie nicht geschwächt, sondern im Gegenteil klar und entschlossen. Unbeschwert schreitet sie voran immer findet sie ein Weiterkommen. Ihr Ziel ist ein Ort, wo alles Wissen aus allen Zeiten aufbewahrt wird, wo nichts verloren geht, wo ihre verwunschenen Brüder sind.
Das Ende der Welt
Sie kommt an das Ende der Welt, wir wissen es, ein Ende gibt es nicht, nicht wirklich. Aber es gibt immer und zu jeder Zeit ein Ende der bekannten Welt. Der eigene Horizont ist begrenzt und mag für manch ein gewöhnliches Leben knapp bemessen sein. Das gilt nicht für das Schwesterlein, sie begegnet auf ihrem Weg Sonne, Mond und Sterne.Sonne und Mond, wie ein Grenzposten stehen sie da, gefährlich wohl nur für das Kind, das ihnen zu nahe kommt. Das Schwesterlein beachtet sie aber nicht, sondern wandert weiter und findet die Antwort auf ihre Frage, bei den freundlichen Sternen. Die Sterne sind wie Kinder und sitzen auf Stühlchen, wie das Schwesterlein selbst.
Der Kosmos wird im Märchen wie in der Phantasie eines Kindes dargestellt. Ist es, dass wir Menschen alle noch Kinder sind, verglichen mit der Lebenszeit der Planeten?Acht ist die Zahl der Planeten in unserem Sonnensystem.
Acht sind die Geschwister, die sieben Brüder und die eine Schwester. Der Morgenstern steht auf und kommt dem Schwesterlein entgegen. Der Morgen- und Abendstern ist nach Sonne und Mond von der Erde aus am leichtesten zu erkennen. Der Morgen- und Abendstern ist die Venus, sie steht von den 8 Planeten in unserem Sonnensystem der Erde am nächsten. Und sie ein Wahrzeichen der Liebe und erstrahlt wie das Schwesterlein in ihrer Liebe zu den verwunschenen Brüdern.Sie erfährt vom Morgenstern, die Brüder sind in einem Glasberg verborgen und erhält ein Hinkelbeinchen, ein Hühnerknöchelein, mit dem Hinweis es gut zu bewahren, es sei der Schlüssel zum Glasberg.
Das Mädchen ist dem Ziel sehr nahegekommen, es kennt das geheime Versteck und bewahrt den Schlüssel sorgsam in ihrem Tuch. Wie kann es dann sein, dass sie ihn verloren hat? Das Mädchen hält sich mit dieser Frage nicht länger auf, es ist ebenso.Mit dem Leben bezahlen
Wer dieses Märchen als Kind zum letzten Mal gehört hat, hat vieles wieder vergessen, nur nicht wie sich das Schwesterlein mit einem Messer einen kleinen Finger abschneidet und mit diesem "Hinkelbeinchen" den Glasberg aufsperrt.Der Schlüssel für die Erlösung der Brüder liegt in dem Schwesterlein.
Es ist ein Selbstopfer, so wie es immer wieder Menschen getan haben, aus Mitgefühl oder der Wahrheit und Gerechtigkeit zu liebe. Und das Schwesterlein zu nicht weniger, als der Erlösung ihrer Brüder.Der Glasberg umfasst einen abgeschlossen Raum, Raum und Zeit treten außer Kraft, hier geht nichts verloren, und alles war darin geschieht tritt nicht in die Außenwelt. Es ist eine Welt unter einer Glasglocke, es fehlt das Spüren. Das Zwerglein, ein uraltes Wesen, das Wissen, Schätze und Geheimnisse bewahrt, bildet einen freundlichen Wächter zwischen der wirklichen und der unterglas Welt.
Es begrüßt das Mädchen, heißt sie warten, die Herren Raben sind nicht zu Hause, es deckt den Tisch, bringt die Speisen für die sieben Gedecke. Das Mädchen geht hin und isst von jedem Tellerchen ein Stückchen, trinkt von jedem Becherlein ein Schlückchen. Es ist eine rituelle Handlung, womit die Schwester mit jedem Bruder in Berührung kommt. In das letzten Becherchen wirft sie das Erkennungszeichen, den Ring.Das Schwesterlein versteckt sich hinter der Tür so kann sie die Brüder überraschen oder fliehen, falls die Brüder sie nicht erkennen.
Die Raben kommen und essen und sind dem Rätsel auf der Spur, "das ist eines Menschenmund gewesen". Jeder einzelne Bruder verbindet sich "symbolisch" mit dem Leib des Mädchens, Es erinnert an das letzte Abendmahl, wie die Jünger mit dem Brot und dem Wein, symbolisch Leib und Blut ihres "Herren Christi" in sich aufnehmen.Die Erlösung
Der Ring im Becherlein des letzten Bruders schafft das bewusste Wiedererkennen. Aber erst die Worte des siebenten Bruder "ist unser Schwesterlein da, so wären wir erlöst," sind wie eine Umkehrung des vorangegangenes Fluches und vollenden die Erlösung. Und die Brüder nehmen wieder ihre menschliche Gestalt an.
Nun kommt das Schwesterlein hervor, sie umarmen und herzen sich und laufen fröhlich nach Hause.Wer weitere Fragen, bzw. Anregungen zu diesem Märchen hat, möge mir eine Mail schicken, ich antworte gerne.