Das tapfere Schneiderlein: Interpretation
An einem Märchenabend zeigt es sich wie vielfältig "das tapfere Schneiderlein" aufgefasst und interpretiert werden kann.
Die Ausgangslage: Das tapfere Schneiderlein ist noch längst kein Schneider.
Ein Schneiderlein ist klein und gering und hat kein Gewicht. Schon in früheren Zeiten war der Schneider unter den Handwerkern der Geringste und bekam den geringsten Lohn für seine Arbeit. Die kleine Werkstatt, die in der Dachkammer liegt und nur über mehrere Stiegen zu erreichen ist hinterlässt auch einen ärmlichen Eindruck. Ähnlich dem berühmten Gemälde von Carl Spitzweg "der arme Poet", der in seiner kalten, undichten Dachkammer im Bett sitzt und unter aufgespannten Regenschirm schreibt.Das Schneiderlein ist achtsam und frohen Mutes. Sein Fenster steht offen, so steht er auch dem Leben offen gegenüber. Es steckt seinen Kopf zum Fenster hinaus und ruft der Marktfrau mit dem Mus zu: "komm nur herauf gute Frau hier kannst du deine Ware loswerden".
Das Schneiderlein ist in seinen Bedürfnissen bescheiden. Es kann sich nur wenig "Süßes" leisten. Das Wenige aber hat einen hohen Stellenwert und versüsst sein Leben, er segnet es und wünscht sich daraus Kraft und Stärke zu erhalten.
Das Schneiderlein weist eine hohe Arbeitsmoral auf. Er arbeitet fleißig, er weiß seine Arbeit ordentlich fertig zu machen, bevor er sich den Genuss des Mus gönnt. Das Mus ist Motivation und Belohnung zugleich.
In dem tapferen Schneiderlein zeigt sich ein Mensch, der nicht aus persönlichen Gründen, sondern aufgrund äußerer Zwänge, Rang, Geld, enge Werkstatt und Einschätzung der Leute, klein gehalten wird.
Wodurch beendet er sein klein gehaltenes und bescheidenes Leben?
Die Fliegen nehmen ihm die Freude das wohlverdiente Mus zu geniessen. Da warten Hunderte mit denen es selbst den geringsten Lohn noch teilen muss. Die Fliegen sind Mitesser und Blutsauger wie Steuereintreiber, Preistreiber, Vermieter, Kundschaft die nicht bezahlt..u.v.m.Wodurch beendet er sein klein gehaltenes und bescheidenes Leben?
Es bleibt nichts übrig, das ist das Fazit.
Das Schneiderlein setzt sich zur Wehr, Wut kocht auf, die berühmte Laus, die über die Leber läuft macht sein Fass voll. Es erschlägt die Mitesser. Es versetzt ihnen einen Schlag, worauf gleich sieben Fliegen die Beine in die Luft strecken. Das begeistert ihn. So ein gut sitzender Schlag, so ein Treffer. Das Ereignis steht für die Zauberformel die ihn nun begleitet. "Siebene auf einen Streich". Es stickt diese Formel in goldenen Buchstaben auf seinen Gürtel. Der Gürtel ist wie ein Zauberhut, er verleiht seinem Träger ausserordentliche Kräfte. .
Der Schneider wird zum Aufschneider, ein lustiges Wortspiel.
Eine langjährige Mitarbeiterin eines Betriebes vergleicht das Schneiderlein mit einem jungen Arbeitskollegen, der kaum eingearbeitet, schon glaubt alles besser zu können wie sie. Sie meint, er wäre ein Aufschneider und wisse nichts um ihre Bemühungen und Erfahrungen, die sie in der jahrelangen Arbeit gewonnen habe. Für mich ist "das Aufschneiden" des Schneiderleins weniger ein "Angeben" als ein Befreiungsschlag, mit dem es seine aussichtlose Situation beendet.Kann, "das Aufschneiden" Menschen aus aussichtslosen Verhältnissen befreien?
Das ist die Faszination an diesem Märchen. Die maßlose Selbsteinschätzung des Schneiderleins, die nicht zur Angeberei und zum Größenwahn sondern zur Tapferkeit und Befreiung führen. Und weiter noch, die mentale Kraft des Schneiderleins, wiegt mehr als Reichtum, körperliche Größe und Stärke, noch Rang und Namen.Die Konsequenz: es beschliesst hinauszugehen, die kleine Werkstatt, die Stadt reicht ihm nicht, es will die Welt kennenlernen und sich in ihr ausprobieren.
Was es von zuhause mitnimmt, ist ein alter Käse. Dieser erscheint auf den ersten Blick ziemlich nutzlos zu sein. Sprichwörtlich, der alte Käs, den wir gelernt haben, den Generationen vor uns schon mitgeschleppt haben, eben das was veraltet und verkrustet ist. Doch es zeigt sich im Märchen, dass man auch diesen alten Käs noch ausquetschen kann.
Das Schneiderlein nimmt kurz vor dem Stadttor noch ein verfangenes Vöglein mit. Das ist ein wunderbares Symbol für die Gefangenschaft, die das Schneiderlein hinter sich lassen will. Wie er den Vogel in die Luft wirft schenkt es ihm und sich die Freiheit zurück.
Das Schneiderlein holt aus, geht mit großen Schritten auf den Berg. Der Berg ist Symbol des Weitblicks, und dem eigenen Zutrauen, es möchte hoch hinaus.Das Märchen erzählt, dass das Schneiderlein durch seine Leichtigkeit und Beweglichkeit nicht müde wird. Was macht es so leicht und beweglich, es trägt nichts belastendes mit sich. Das erinnert an das Lied von Janis Joplin "Freedom is just another word, than nothing left to loose", in dem die Besitzlosigkeit als Symbol der Hippiebewegung besungen wird.
Es beginnt die Zeit der Prüfungen.
Das Schneiderlein stellt seine neu erworbene Kraft "Siebene auf einen Streich" unter Beweis.Auf dem Berg begegnet es dem ersten Riesen. Es werden noch viele Riesen kommen.
Es lernt die Kraft des Riesen für sich zu nutzen. Die Riesen symbolisieren die Überheblichkeit der Großen und Mächtigen, das macht sie dumm und unbeweglich, das weiß das Schneiderlein zu nutzen. Es setzt dem Riesen nichts entgegen, sondern leitet dessen Kraft gegen ihn selbst. Es wirkt so leicht wie ein Spiel.
Ein Riese kann schwer schleppen. Wie stark die Riesen in uns wirken wird deutlich, wie eine Teilnehmerin sich ganz in den Riesen, der den Baumstamm trägt, hineinversetzte. Auch die Teilnehmerin trug die Hauptlast in ihrer Arbeit und liess sich ausnutzen, sie war immer bereit noch mehr zu geben, ohne nach hinten zu sehen. Sonst hätte sie sehen können wer sich auf ihre Kosten ein frohes Leben macht. Wie das Schneiderlein das es sich hinten bequem machte und ein Lied pfiff.
Das tapfere Schneiderlein lernt von den Riesen sich vom Leben tragen zu lassen, anstatt das Leben als Last zu empfinden und zu schleppen.Die Prüfungen in der Stadt, die Regierungsstadt und mit dem Schloss des Königs wieder ein Machtzentrum.
Das Erste was das Schneiderlein in der Stadt unternimmt ist schlafen. Es geht "wie im Schlaf" voran, es hat einen unbewussten Führer. Es ist sorglos, ruht sich aus und hat einen festen und tiefen Schlaf aus dem es geweckt werden muss.Durch den Gürtel haben die Menschen eine hohe Erwartung an den Schneider, sie glauben es sei ein Kriegsheld. Titel beeindrucken, ohne zu wissen wer oder was dahinter steckt. Die Menschen erhoffen sich von ihm Hilfe.
Die Soldaten und der König fürchten den Schneider aufgrund seines Titels. Ein Kriegsheld, mutig und stark, könnte ihre Schwäche hinter der zur Schau gestellten Macht durchschauen und sie bezwingen.
Einerseits brauchen sie ihn, und anderseits fürchten sie ihn. So versucht der König ein Spielchen, er ist unehrlich und spielt mit verdeckten Karten. Es zeigen sich auch bald die Gefahren, die dem König und dem Volk drohen, zwei unbezwingbare Riesen, ein zerstörerisches Einhorn, und ein mordender Eber.
Der Schneider stellt sich der Prüfung allein, obwohl ihn ein mächtiges Heer begleitet. Er bleibt ein einfacher Mann, er nutzt nicht die Mittel der Macht, denn die Mittel der Macht sind korrupt.
Anstatt auf andere verlässt es sich auf sein Geschick, seine Beweglichkeit in Körper und Geist.
Eine Teilnehmerin, die sich in das Schneiderlein hineinversetzt bemerkte die Leichtigkeit und die Gewissheit des Schneiderleins. Es hat sich einen Überblick verschafft, indem es oben im Baum sitzt. Von dort wirft es Steinchen auf die Riesen und lässt die Mächtigen gegeneinander antreten. Korrupte Systeme zerstören sich selbst, es bedarf des Geschicks und der Geduld eines tapferen Schneiderleins die Wirkung abzuwarten.